InnovationspolitikBinnenmarkt und Wettbewerbsfähigkeit der EU - Zwei italienische Ex-Premiers legen ihre Vorstellungen zur Zukunft vor

21. Juli 2024

Autor: Robin Schenk

Zuerst Letta, dann Draghi. Ursula von der Leyen hat in ihrer Funktion als Kommissionspräsidentin bereits 2023 an gleich zwei ehemalige Premierminister Italiens den Auftrag erteilt, wesentliche Standortbestimmungen und Ausblicke für die EU zu erstellen – und dabei nicht mit Text zu sparen. 147 Seiten misst der sogenannte Letta-Report, der die Debatte im April und Mai 2024 in Brüssel dominierte. Letta fokussiert sich dabei auf die Zukunft des Binnenmarktes der EU und macht weitreichende Vorschläge zur Weiterentwicklung der europäischen Integration in diesem Feld.

Mario Draghi, ehemaliger Chef der europäischen Zentralbank und selbst in den letzten Monaten immer wieder als potenzieller Nachfolger Ursula von der Leyens in der Funktion des Kommissionspräsidenten gehandelt, trägt dieser Tage einen weiteren Bericht zur Debatte bei: Competitiveness, also die Wettbewerbsfähigkeit der EU, nicht zuletzt in geopolitischer Hinsicht, ist hier der Fokus. Maßnahmen, um das gegenüber den USA und China möglicherweise erodierende Standing der EU auf Vordermann zu bringen, sollen konkretisiert werden. Beide Berichte, Lettas wie Draghis Ausführungen, sind insbesondere von hoher innovationspolitischer Relevanz.

Freiheit für Bildung, Innovation und Forschung

Letta stellt in erster Linie eine aus seiner Sicht fehlende Grundvoraussetzung für die Zukunft in den Mittelpunkt: Er fordert, nach den vier vorhandenen „Freiheiten“ des Binnenmarktes (Freiheit des Personen-, des Waren-, des Dienstleistungs- sowie des Kapitalverkehrs) eine „fünfte Freiheit des Binnenmarktes“ für Bildung, Innovation und Forschung zu schaffen. Der aktuelle Status werde einer Wirtschaft, die auf Zugang und Teilen und nicht mehr allein auf Besitz eingestellt sei, nicht gerecht – man müsse stattdessen über die Stärkung von Technologieinfrastrukturen sicherstellen, dass alle Innovationstreiber effektive Teilhabe erreichen könnten, so Letta weiter. Die Implementierung von Open-Science-Netzwerken und Datenzugangsplattformen für die Forschung sei Teil dieser Idee. Letta steigt allerdings bereits weiter vorn ein und fordert z. B. die Schaffung von europäischen Studienabschlüssen, die eine interdisziplinäre europäische Forschungslandschaft antreiben sollen. Unter vielen anderen Ideen und Forderungen plädiert Letta unter anderem für eine die Kapitalmarktunion ergänzende „Investments and Savings Union“ sowie eine erweiterte zentrale fiskalische Kapazität der EU, Unterstützungsmechanismen für Kreditvergaben im Bereich der grünen Transformation, mehr Innovationsorientierung von öffentlicher Beschaffung (Innovation Public Procurement), eine EU-Börse im Bereich Deep Tech, die weitere Harmonisierung von Verbraucherrechten, ein transeuropäisches Hochgeschwindigkeitszugnetz, eine soziale Dimension des Binnenmarktes, ein europäisches „Economic Security Council“, die Förderung digitaler Skills in der Gesamtbevölkerung, und gar am wichtigsten, die in allen Branchen effektive Teilhabe von KMU an den Potenzialen des Binnenmarktes über Nichtdiskriminierung und Regulierungsvereinfachungen, etwa bei inkohärenten Berichtspflichten. Der Bericht ist in voller Länge abrufbar unter Enrico Letta - Much more than a market (April 2024) (europa.eu). ( www.consilium.europa.eu/media/ny3j24sm/much-more-than-a-market-report-by-enrico-letta.pdf)

Draghis Bericht hätte eigentlich im Juni vorliegen sollen, war aber in den ersten Julitagen wegen einer nicht näher erklärten Verzögerung noch nicht veröffentlicht. Einige der zu erwartenden Inhalte sind allerdings bereits der Brüsseler Bubble entkommen, nicht zuletzt durch Draghis Äußerungen selbst: Ein verstärkter Fokus der EU auf disruptive Innovationen und die nötigen Rahmenbedingungen hierfür sei zentral, so Draghi. Dasselbe gelte für Start-ups und deren Marktreifeprozess, sowie Grundlagenforschung und deren Transfer in die technologische Anwendung – in all diesen Bereichen habe Europa massiven Aufholbedarf. Die vorgeschlagenen Maßnahmen konzentrieren sich voraussichtlich auf weitere Harmonisierung: Gerade die Verwendung öffentlichen Geldes im Bereich Forschung und Entwicklung durch die EU-Mitgliedstaaten solle besser koordiniert werden, da die USA mit derselben Menge an Mitteln eine effizientere Nutzung und Verschuldung (also gemeinsame europäische Anleihen, wie in der Corona-Pandemie/Next Generation EU) über die höchste politische Ebene (hier also die EU-Ebene, nicht die mitgliedstaatliche) demonstrierten. Über die öffentliche Seite hinaus sollte laut Draghi die Mobilisierung privaten Kapitals eine Priorität sein, zudem der Ausbau des IPCEI-Instruments (Important Projects of Common European Interest), das Wirtschafsbeihilfen unter gewissen Bedingungen ermöglicht. Spannend wird sein, welche weiteren Maßnahmen im Bericht schlussendlich im Detail vorgeschlagen werden – gerade auch im Kontext der aktuellen Handelskonflikte mit China.

Für das Steinbeis Europa Zentrum ist das Monitoring zukünftiger Entwicklungen auf der Ebene des EU-Policymaking und damit der hier diskutierten Zukunftsszenarien von großer Bedeutung. Denn die politischen und strategischen Prioritäten bilden die Grundlage für die zukünftigen Arbeitsprogramme, insbesondere für das EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe und ab 2028 für dessen Nachfolgeprogramm. Die strategische Ausrichtung wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Projektaufrufen wiederfinden. Der stete Austausch mit Vertretern der EU-Innovationspolitik über die zukünftigen Themen, ermöglicht den Kollegen und Kolleginnen am Steinbeis Europa Zentrum, sich frühzeitig auf entsprechende Projekte vorzubereiten. Davon profitieren gerade auch KMU, die dann die Möglichkeit haben, entsprechende Fördermöglichkeiten zu nutzen.

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